von Heike Gündling
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4. September 2025
Die rasant fortschreitende Integration Künstlicher Intelligenz (KI) in nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die über rein ökonomische oder ethische Betrachtungen hinausgehen. Eine zentrale, bislang oft unterschätzte Dimension betrifft die potenziellen neurologischen Konsequenzen der KI-Nutzung, insbesondere im Hinblick auf den Effekt des „De-Skilling“. Dieser Begriff beschreibt den Verlust oder die Erosion menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten aufgrund der Delegation von Aufgaben an intelligente Systeme. Kognitive Verlagerung und die Problematik des Externalisierten Denkens Die menschliche Kognition ist plastisch und adaptiv, sie formt sich durch ständiges Training und Anwenden von Fähig- und Fertigkeiten. Wenn KI komplexe Denkprozesse, Problemlösungen oder sogar Kreativitätsaufgaben übernimmt, findet eine kognitive Verlagerung statt: Anstatt eigene neuronale Netzwerke für diese Prozesse zu aktivieren und zu stärken, verlassen sich Nutzer auf die extern bereitgestellte Intelligenz. Ein prägnantes Beispiel ist die Nutzung von KI-basierten Schreibassistenten. Während diese die Effizienz steigern können, besteht die Gefahr, dass die Fähigkeit zur kohärenten Argumentation, zur präzisen Formulierung und zur Entwicklung origineller Ideen ohne diese Hilfsmittel „atrophiert“, also aufgrund mangelnder Nutzung verkümmert. Neurologisch betrachtet bedeutet dies, dass bestimmte kortikale Areale, die für diese Funktionen zuständig sind – etwa der präfrontale Kortex für exekutive Funktionen und Entscheidungsfindung, oder temporo-parietale Bereiche für Sprachproduktion und Verständnis – weniger intensiv beansprucht werden. Die neuronale Aktivität, die für die Konsolidierung von Wissen und die Verfeinerung von Fähigkeiten unerlässlich ist, könnte abnehmen. Dies kann zu einer Reduktion der neuronalen Dichte und Konnektivität in den betroffenen Arealen führen, analog zum Phänomen des "Use It or Lose It", das in anderen Kontexten der Neuroplastizität beobachtet wird. Auswirkungen auf Entscheidungsfindung und kritisches Denken KI-Systeme sind darauf ausgelegt, Daten zu verarbeiten und auf dieser Grundlage Empfehlungen oder sogar Entscheidungen zu treffen. Während dies in vielen Bereichen eine enorme Effizienzsteigerung bedeutet, birgt es die Gefahr, dass menschliche Nutzer ihre eigenen Fähigkeiten zur Datenauswertung, zur Risikoabschätzung und zum kritischen Hinterfragen von Informationen verlieren. Wenn Algorithmen die "Antwort" liefern, besteht weniger Anreiz, konkurrierende Hypothesen zu formulieren, Quellen zu überprüfen oder die Validität von Argumenten zu bewerten. Aus neurologischer Sicht ist der Prozess des kritischen Denkens eng mit komplexen Funktionen des Frontallappens verbunden, einschließlich der Arbeitsgedächtnisfunktion, der Fähigkeit zur Perspektivübernahme und zur Metakognition (dem Denken über das eigene Denken). Eine übermäßige Abhängigkeit von KI könnte diese Funktionen marginalisieren. Die Passivität, die mit dem Konsum von KI-generierten Lösungen einhergeht, könnte zu einer Verringerung der neuronalen Aktivität in diesen Bereichen führen und somit die Fähigkeit zur eigenständigen Problemlösung und zur Entwicklung origineller Strategien schwächen. Langfristig könnte dies zu einer reduzierten kognitiven Flexibilität und einer erhöhten Anfälligkeit für kognitive Verzerrungen führen, da die eigene Fähigkeit zur Fehlererkennung und Korrektur abnimmt. Soziale Kognition und emotionale Intelligenz Ein oft übersehener Aspekt des De-Skilling betrifft die sozialen und emotionalen Kompetenzen. KI-gestützte Kommunikationstools, personalisierte Empfehlungssysteme oder sogar virtuelle Assistenten simulieren menschliche Interaktion und können bestimmte Aspekte der sozialen Kognition – wie Empathie oder das Erkennen emotionaler Zustände – reduzieren. Wenn beispielsweise Dialoge zunehmend über KI-Schnittstellen stattfinden, könnte die Fähigkeit, nonverbale Signale zu interpretieren, Nuancen in der Sprache zu erkennen oder emotionale Reaktionen angemessen zu verarbeiten, beeinträchtigt werden. Die neuronale Basis für soziale Kognition ist komplex und involviert Regionen wie den sog. superioren Gyrus temporalis für die "Theory of Mind", die Amygdala für emotionale Verarbeitung und das Spiegelneuronensystem für Empathie. Eine Verringerung der direkten menschlichen Interaktion zugunsten von KI-vermittelten Erfahrungen könnte die Reifung und Aufrechterhaltung dieser neuronalen Netzwerke beeinträchtigen. Dies könnte zu einer verminderten emotionalen Intelligenz und einer stärkeren sozialen Isolation führen, was wiederum weitreichende Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit haben könnte. Prävention und Gegenmaßnahmen: Förderung der "AI Literacy" und hybrider Kompetenzen Die potenziellen neurologischen Konsequenzen des De-Skilling sind alarmierend, aber nicht unvermeidbar. Es ist darum entscheidend, dass wir die Nutzung von KI nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu menschlichen Fähigkeiten verstehen und gestalten! 1. Förderung der "AI Literacy": Nutzer müssen verstehen, wie KI-Systeme funktionieren, welche Stärken und Schwächen sie haben und wann ihre Nutzung angemessen ist. Statt blindem Vertrauen ist ein kritisches Verständnis der Algorithmen und ihrer Limitationen notwendig. Dies fördert die Metakognition und die Fähigkeit zur Selbstreflexion in Bezug auf die eigene Abhängigkeit von Technologie. 2. Entwicklung hybrider Kompetenzen: Ziel muss es sein, Fähigkeiten zu entwickeln, die die Stärken von Mensch und Maschine synergetisch nutzen. Das bedeutet, dass Menschen nicht nur lernen sollten, mit KI zu interagieren, sondern auch, die Ergebnisse der KI kritisch zu bewerten, zu hinterfragen und zu verfeinern. Dies erfordert ein aktives Engagement und die kontinuierliche Anwendung eigener kognitiver Fähigkeiten. 3. Bewusste Reflexion und Pausen: Regelmäßige "Digital Detox"-Phasen oder Phasen, in denen Aufgaben bewusst ohne KI-Hilfsmittel erledigt werden, können dazu beitragen, die eigenen Fähigkeiten zu erhalten und zu stärken. Dies erfordert individuelle Disziplin und ein Bewusstsein für die eigene kognitive Resilienz. 4. Bildung und Training: Bildungseinrichtungen müssen Curricula entwickeln, die den kritischen Umgang mit KI lehren und die Entwicklung von Fähigkeiten fördern, die nicht leicht durch KI ersetzt werden können, wie kreatives Denken, komplexe Problemlösung, soziale Interaktion und moralisches Urteilsvermögen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die neurologischen Konsequenzen des De-Skilling durch KI-Nutzung eine ernstzunehmende Herausforderung darstellen. Sie erfordern eine multidisziplinäre Antwort, die neurologische Erkenntnisse, Bildungsstrategien und bewusste Technologiedesign-Prinzipien miteinander verbindet. Nur so können wir sicherstellen, dass die Fortschritte der KI unser menschliches Potenzial erweitern und nicht unbemerkt „atrophieren“ lassen.